Michael Müller wird zurzeit als Macher gefeiert. Als Regierender Bürgermeister, der in der Krise präsent ist, Verantwortung übernimmt, Entscheidungen fällt. Allerdings freut man sich dabei allzu oft darüber, dass Müller endlich irgendwelche Dinge tut – und verliert aus dem Blick, wie, wann und was er eigentlich macht. Betrachtet man die Arbeit Müllers und des Senats im Detail, bleibt wenig Grund für Jubelchöre. Dann lautet das Fazit: Eine Lernkurve ist feststellbar.
Bis zum 14. März schien Müller das Virus zu unterschätzen. Auf Pressekonferenzen wirkte er, angesprochen auf Corona, unwillig, unwirsch, teils uninformiert. Seine Forderung nach einem bundesweit koordinierten Vorgehen war berechtigt. Dass er aber Clubs und Bars noch am Freitag, dem 13. März, geöffnet ließ, dass am 14. zunächst auch das Spiel Union gegen Bayern vor 22.000 Zuschauern stattfinden sollte, waren Fehleinschätzungen.
Nach massiver Kritik folgte am 14. März die überhastete Korrektur: Der Senat veröffentlichte die erste Corona-Verordnung, die alle Clubs, Bars, Kneipen, Fitnessstudios und Bordelle der Stadt zum Schließen zwang. Die Verordnung wurde online veröffentlicht, die Polizei begann sofort, im Nachtleben zu kontrollieren und Betrunkene aus Bars zu befördern. Die Öffentlichkeit wurde vorab nicht informiert. Eine wahnwitzige Hauruck-Aktion an einem Samstagabend, die nur friedlich verlief, weil viele schon lange ein härteres Vorgehen erwarteten. Müller profitierte von der eigenen Untätigkeit.
Der Senat regiert Berlin seither mit immer rigideren Verordnungen. Die letzte, zurzeit noch gültige, erließ er zum 23. März. Mit ihr banden Müller und der Senat die 3,7 Millionen Berliner an ihre Wohnungen. Das Verlassen der eigenen vier Wände ist seither nur noch mit triftigem Grund erlaubt. Eine Vorgabe, die abweicht von den Bundesempfehlungen und allen Bekundungen des Senats vorab: Die Linke schloss diese Form des „Freiheitsentzugs“ für Berlin kategorisch aus, Müller und Grüne warnten vor den massiven sozialen Folgen noch am selben Tag.
Warum man nicht wie andere Bundesländer lediglich den Weg der weniger invasiven Kontaktbeschränkung wählte? Dazu hört man aus Kreisen von Senat und Abgeordnetenhaus inoffiziell als einzige, beunruhigende Erklärung: Der Senat wusste schlicht nicht, was er tut. Müller profitiert davon, dass das Wohnungsgebot von der personalschwachen Polizei ohnehin nicht kontrolliert werden kann, es für Berliner also bisher ohne spürbare Folgen bleibt.
Mitten in der Krise fand Müller am 3. April dann Zeit für ein skurriles Intermezzo auf internationaler Bühne, in dem er US-Präsident Trump vorwarf, er habe für die Berliner Polizei bestimmte Schutzmasken in die USA umleiten lassen. Bundespolitik und US-Botschaft schalteten sich ein, Müller entschuldigte sich ein wenig, die Vorwürfe stehen weiter ungeklärt im Raum. Eine peinliche Zeit- und Kraftverschwendung.
Seither aber arbeitet Müller konzentriert an Corona. Eine Krisen-Taskforce in der Senatskanzlei bündelt die wichtigsten Arbeitsaufträge. Der Senat hat in Rekordzeit Soforthilfen für die am härtesten betroffenen Branchen ausgeschüttet und damit Existenzen gerettet. Für Obdachlose und Gewaltopfer wurden Plätze in Hotels eingerichtet. Sie werden nicht reichen, aber Berlin tut hier mehr als andere Länder.
Endlich nimmt Müller auch die Öffentlichkeit mit, erklärt sich und die Arbeit des Senats bereitwillig, zuversichtlich, aber zurückhaltend in Bezug auf Lockerungen. Er prescht nicht vor wie die Extrempole unter den Ministerpräsidenten, Söder in Bayern und Laschet in NRW. Den Weg aus dem Shutdown will der Senat erst an diesem Dienstag beschließen. Bis dahin will Müller die Lage beobachten, werden Berliner Sonderwege diskutiert, Gespräche mit der Wirtschaft geführt.
Mögen Kritiker auch drängeln: Jetzt, wo es um Lockerungen geht, ist das der richtige Weg. Voreilige Öffnungen, die wieder zurückgenommen werden müssten, wären fataler als ein länger anhaltender Shutdown – zuallererst für die Betriebe selbst.
Berliner Zeitung, Leitartikel, online erschienen am 20. April 2020