Wie der Berliner Senat sein wichtigstes Instrument in der Pandemie beerdigt

Der Berliner Senat hat neue Einschränkungen beschlossen. Zum ersten Mal seit Monaten, in einer schwierigen Phase der Pandemie. Der Handlungsdruck war hoch, die Kanzlerin rügte deutlich: In der Hauptstadt müsse endlich etwas passieren. Die SPD war schon vorab in Panik, die Grünen und die Linke ließen sich am Dienstag – entgegen allen Bekundungen vorab – offensichtlich mitreißen. Noch am Abend nach dem Telefonat mit Merkel und den Länderchefs beschloss der Senat neue Maßnahmen. Doch es hapert, mal wieder, an Kommunikation und Kongruenz.

Problemfall 1: die Maskenpflicht in Bürogebäuden. Natürlich ist es nur recht und billig, von Erwachsenen dasselbe zu verlangen, wie man es zurzeit von allen Kindern in Berliner Schulen verlangt: Maske auf beim Bewegen durch den Raum, Maske ab am Arbeitsplatz. Das ist weder Raketenwissenschaft noch Folter, jeder Erstklässler schafft das ohne großes Murren. Erlaubt sein müssen aber die Fragen: Was soll es bringen, warum genau jetzt? 

Seit Wochen nämlich predigt die SPD-Gesundheitssenatorin, dass junge Erwachsene, private Partys im Freien sowie das „Clubgeschehen“ die größten Treiber für die hohe Infektionszahl in den Innenstadtbezirken sind. Warum der Senat dann plötzlich Arbeitsplätze mit Auflagen versieht? Die einfachste Erklärung: Die Grünen hatten die Idee schon geäußert, sie klingt einleuchtend und wenig invasiv, in vielen Unternehmen herrscht Maskenpflicht schließlich schon jetzt. Kann man – auch ohne dass vorab eine Vorlage erarbeitet wurde – mal rasch mitbeschließen, dachte man sich wohl im Senat. Dann sieht man gleich noch etwas fleißiger aus. Missachtet wurde der Fakt, dass Corona-Politik nichts wert ist, solange man die Leute nicht mitnimmt, solange man sich nicht gut erklärt. Wütende Aufschreie in den sozialen Medien und lange Erklärstücke bewährter Medien am Tag danach beweisen die Leerstelle, die der Senat hier mal wieder hinterlässt.

Das sehr viel größere Problem ist aber das Timing des Senats generell. Neue Maßnahmen, so versprach man es den Berlinern immer wieder, würden erst nach der selbst erfundenen Infektionsampel beschlossen. Allein das ist der Sinn und Zweck dieses Instruments. Die Infektionsampel zieht nicht nur die Zahl der Neuinfektionen mit in Betracht, sondern zwei weitere Indikatoren: die Zahl der mit Corona-Patienten belegten Intensivbetten und den Reproduktionsfaktor, der anzeigt, wie viele Menschen ein Infizierter im Schnitt ansteckt. Ein nicht ganz simples, aber sinnvolles System, vom Senat entworfen und eingeführt schon im Mai. Der Bund und andere Länder wollen sich jetzt vielleicht daran orientieren. Und der Senat kurbelt fleißig für den Export: „Super“ sei die Ampel, pries Kultursenator Lederer am Dienstag. „Viele werden etwas Ähnliches beschließen“, sagte der Regierende Bürgermeister Müller stolz.

Völlig absurd! Denn der Senat verstößt jetzt zum ersten Mal gegen die Infektionsampel und gegen jede damit selbst auferlegte Richtlinie. Die Regeln der Infektionsampel lauten: Stehen zwei Ampeln auf Gelb, diskutiert der Senat über Maßnahmen. Erst wenn zwei Ampeln auf Rot stehen, werden neue Maßnahmen beschlossen. Seit diesem Mittwoch steht in Berlin die Ampel für Neuinfektionen mit einem Wert von 30,2 erstmals auf Rot, zwei Ampeln leuchten weiter grün. Am Tag des Senatsbeschluss leuchteten auch die Neuinfektionen noch gelb. Das bedeutet offiziell: Kein Handlungs-, nicht einmal Diskussionsbedarf für den Senat. Dennoch wurden neue Einschränkungen erlassen – und Gesundheitssenatorin Kalayci drang mit Kontaktbeschränkungen auf noch wesentlich rigorosere Maßnahmen.  

Für die Berliner bedeutet das die Rückkehr zu Unsicherheit, die Nichtnachvollziehbarkeit von staatlichem Handeln. Eine Empfehlung zum Export der eigentlich sinnvollen Strategie kann man vor diesem Hintergrund nicht geben, nur leise ein Trauerlied singen: Der Senat beerdigt seine Infektionsampel gerade selbst.

Der Senat muss sich und Berlin eingestehen, dass die Ampel und die mit ihr verbundenen Regeln so nicht funktionieren. Dass die Ampel zurzeit ein gutes Instrument zum Monitoring, aber nicht Leitfaden für das Handeln einer Regierung ist. Dass man wieder gerichtet nur nach Neuinfektionen und Bauchgefühl entscheidet. Und dass zentrale Fragen erneut verhandelt werden müssen: Nach welchen Kriterien werden jetzt, wo zwei rote Ampeln nicht mehr als Handlungsweiser dienen, in Berlin Verschärfungen beschlossen? Und ab wann werden sie fallengelassen?

Berliner Zeitung, Leitartikel, online erschienen am 30. September 2020